Alltagsgedanken #1


„Du bist zu dünn. Iss mehr!“

In meiner Kindheit und meinen Jugendjahren hörte ich diesen Satz sehr oft. Wildfremde Menschen sprachen mich auf meine (nicht vorhandene) Körperfülle an. Wildfremde. Wie kommt es, dass Unbekannte über mein Gewicht urteilen und dies noch lautstark kundtun? Wenn jemand „zu dick“ ist, wird dieser Gedanke meistens nicht laut ausgesprochen. Zumindest sagt man es dem Betroffenen nicht ins Gesicht. „De Blade suit ned so vü fressn“, hörte ich beim Billa einen jungen Mann seiner Freundin zuraunen, die ihm mit einem verhöhnenden Lachen beipflichtete. Sie erwiderte: „Hast gseh’n was die im Einkaufswagl hat. Da wundert mi nix.“

Zu meiner Geschichte. Ich bin mit 14 in einem guten Jahr 20 Zentimeter gewachsen. Plötzlich war ich 1,76 m groß. Mir war oft schwindlig, ich war blass und ich wog 54 kg. Ich aß wie ein Mähdrescher und konnte trotzdem nicht zunehmen. Die Schulärztin wog mich regelmäßig ab. Sie stellte mir eigenartige Fragen. Viel später kapierte ich erst, dass sie davon überzeugt sein musste, ich hätte eine Essstörung. Aber nein, die hatte ich nicht. Wie gesagt, ich wuchs in einem guten Jahr 20 Zentimeter. Mein Körper hatte einfach kein Material für Fettdepots übrig. Er brauchte den Baustoff für mein Längenwachstum. Trotzdem. Immer wieder diese Kommentare. Ich konnte diese „gut gemeinten“ Ratschläge nicht leiden, aber konterte nicht. Denn ich begann tatsächlich zu glauben, ich sei zu dünn. Etwas stimmte nicht mit mir.

„Du bist zu dünn. Iss mehr!“

Gratulation an all die Menschen, die diese Urteile aussprechen oder denken. Grandiose Leistung! Ich freue mich über ihren Beitrag zum Wohlbefinden der Menschheit! Ähm nicht.

Urteile, ausgesprochen oder unausgesprochen, sind niemandem dienlich. Man spürt die Blicke auf dem Körper und sieht die Urteile im Gesicht der Menschen. Dem jungen Pärchen beim Billa sah man das Entsetzen und den Spott schon an, bevor sie ihre hochqualifizierten Aussagen tätigten.  

Kann man mit dem Urteilen aufhören?

Ja.

Wie?

Aller Anfang ist schwer. Zu Beginn könnte man der Person beispielsweise einfach in die Augen sehen. Freundlich grüßen wäre schon der etwas ungewöhnlichere nächste Schritt. Man könnte sein Gegenüber sogar in ein Gespräch verwickeln. Achtung! Es besteht die Gefahr, zu erfahren, wie freundlich und herzenswarm dieser Mensch ist. Man könnte vieles, anstelle zu denken: „Du bist ja fett./Die bricht ja gleich ab.“

Was soll ich tun, wenn ich mir wirklich Sorgen um eine nahestehende Person mache?

Wenn man eine Essstörung bei einem Freund vermutet, kann man ihn darauf ansprechen. „Du bist zu dünn. Iss mehr!“ sind jedoch die falschen Worte. Das Gespräch sollte im ruhigen und geschützten Raum unter vier Augen stattfinden. Du kannst die Krankheit deines Freundes nicht heilen. Man kann dem Betroffenen nur anbieten, gemeinsam mit ihm eine Beratungsstelle und damit professionelle Hilfe aufzusuchen.

Zurück zum eigentlichen Thema. Urteile. Wir Menschen bewerten und urteilen ununterbrochen. Es liegt in unserer Natur. Um unser Überleben zu sichern, müssen wir Situationen stets bewerten, um kluge Entscheidungen treffen zu können. Das Bewerten eines Mitmenschen gehört jedoch nicht zur unseren Überlebensstrategien. Ich ertappe mich auch dabei. Ich nehme mich hier gar nicht aus. Mein unbewusstes Bewertungsverfahren ist oft schneller als gewünscht. Mein Vorsatz ist jedoch, die Menschen zu sehen und nicht ihre körperliche Hülle. Ich schaue den Menschen in die Augen. (PS: Nicht jedem. Das wäre zu anstrengend. )

Ich denke, die Botschaft ist angekommen.

Alles Liebe und viel Freude beim Augenkontakt ;-)

Christina